Ortsbeschreibung von Grafenberg 1848 PDF-Logo

aus der Oberamtsbeschreibung von Nürtingen

Seite 155 bis 158
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9. Grafenberg,

evangelisches Pfarrdorf, Gemeinde III.Cl mit 916 Einwohnern (dar-
unter 11 katholische Filialisten von Unter-Boihingen, 2 1/8 Stun-
den süd-südwestlich von Nürtingen, an der Straße von da nach
Metzingen (Forstamt Urach). Grafenberg hat mit seiner Markung
eine hohe Lage auf Hügelrücken, welche nach dem Erms- und
Authmutthale sich absenken, reine, trockene und sehr gesunde Luft,
aber schweren, nicht sehr ergiebigen Boden. Die meistes uneben
gelegenen Ackerfelder gehören zu den geringeren des Oberamtsbe-
zirks, stehen aber, da der Fruchtbau sehr beschränkt ist (es kom-
men nur 0,29 Morgen Acker auf 1 Person, dennoch hoch im
Preise 350, 450 -700 fl. Die Wiesen sind besser als das Ackerland
und theilweise sehr gut, Preise 400, 500 – 600 fl. Die Obstzucht
ist sehr wichtig und wird von den Güterbesitzern, sowie auch von
der Gemeindeverwaltung auf den Allmanden mit vielem Fleiß be-
trieben, es wird jedoch mehr Kern- als Steinobst cultiviert. Im
Jahr 1840 wurden 40,000 Simri Kernobst geschätzt. Auch Nuß-
bäume sind viele vorhanden. Der Weinbau ist nicht ausgedehnt,
die Behandlung die in diesen Gegenden gewöhnliche, aber das
Erzeugniß den bessern beizuzählen und in der Umgegend und auf
der Alp gesucht. Der Holzertrag der Commun- und wenigen
Privatwaldungen ist sehr unzureichend; der größte Theil der auf
hiesiger Markung liegenden Waldungen gehört dem Staat. Die
Rindviehzucht ist wenig von Bedeutung; auch die Schafzucht wird
nicht mehr in dem Umfang wie früher betrieben, da die Sommer-
schafweide wegen Vertheilung von Allmanden aufgehört hat. Als
namhaft ist die Geflügelzucht zu erwähnen.

  Die Einwohner leben mit wenigen Ausnahmen in beschränk-
ten, selbst kümmerlichen Nahrungsverhältnissen und viele sehen
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sich genöthigt, neben dem Feldbau auf verschiedene Gelegenheiten
zum Broderwerb in der Nähe und Ferne zu denken. Dahin ge-
hören: das Handeln mit Geflügel und anderen Viktualien in den
benachbarten Städten, das Hausiren mit Büchern, namentlich Reut-
linger Schriften und Kalendern, mit Wetzsteinen, Besen etc. das
Lumpensammeln, das Arbeiten als Maurer- und Ziegel-Knechte in
den Rhein- und Bodensee-Gegenden, das Korbflechten etc.. Häufig
werden die Kinder, nicht zum Vortheil ihrer sittlichen Ausbil-
dung, wenn sie kaum der Schule entwachsen sind , in auswärtige
Dienste geschickt. Bei diesen häufigen Berührungen mit der Fremde
will man ein gewisses lebendiges, aufgewecktes Wesen als eine die
hiesigen Einwohner von ihren Nachbarn unterscheidende Eigen-
thümlichkeit wahrnehmen. Von Professioisten arbeiten nur einige
Weber und Schuster für auswärtigen Verschluß. Ein Erwerbs-
zweig des weiblichen Geschlechts, das Sticken von Blousen und
Mousselin, hat in neuerer Zeit aufgehört. Handlung ist 1, Schild-
wirthschaften sind 4, Ziegelei 1 hier. Die Gemeinde besitzt ein
Back- und Waschhaus.

  Sämmtliche Zehnten bezieht der Staat, den kleinen im Namen
der verwandelten Pfarrstelle

  Der Ort ist malerisch gelegen, weithin sichtbar und zieht sich
in weitläufiger Bauart wie ein Kranz um die hohe Kuppe des
Burgstalls her, s. hienach. Weniger gefällig ist das Innere; man
trifft viele armselige kleine Häuser und unreinliche, holprige Wege.
Der südliche Theil des Dorfs liegt beträchtlich tiefer als der nörd-
liche, wo Kirche und Pfarrhaus stehen. Erstere ist 1725 durchaus
erneuert und erweitert worden und war früher mehr nur eine
Kapelle; sie ist zu 2/3 Eigenthum der Gemeinde, zu 1/3 des Hei-
ligen. Das frei, hoch und schön gelegene Pfarrhaus wird vom
Staat unterhalten. Ein neuer Begräbnißplatz ist oben am nord-
westlichen Ende des Orts angelegt worden. Das Rath- und zu-
gleich Schul-Haus ist 1815 erbaut und hat ein gutes Aussehen. Es
besteht eine Industrieschule; die Volksschule hat einen Lehrer mit
einem Lehrgehülfen. Quellbrunnen sind hinreichend vorhanden;
nur in sehr trockenen Sommern fehlt es im oberen Dorf an gutem
Trinkwasser. Durch das untere Dorf führt die neue, bereits leb-
hafte Straße von Nürtingen und Kirchheim nach Metzingen,
Reutlingen etc.

  Mitten in dem Dorfe erhebt sich ein kegelförmiger, nach allen
Seiten sonst abgedachter Hügel, 1418' ( nach Schübler) hoch über
dem Meere, 572' über dem Neckar bei Nürtingen, dessen Seiten
theils mit Reben, theils mit Obstbäumen bepflanzt sind, die Kuppe
[157] oben ist abgeplattet und trug nach der Sage ein Grafenschloß, da-
her der Platz noch jetzt der Burgstall heißt. Alte Leute erinnern
sich noch zweier Oeffnungen, die in Kellergewölbe führten. Jetzt
zeugen nur noch hie und da gefundene Ziegelstücke, auch Scherben
von feinerer Erde von der alten Wohnstätte. Die isolirte Stel-
lung dieses Hügels gewährt eine reizende Umschau in die Nähe
und eine ausgezeichnete Fernsicht, die mit den sehenswürdigsten
des Landes wetteifert. Ein gutes Auge vermag bei reiner Luft
gegen siebenzig Dörfer zu zählen.*

  * Wir erlauben uns eine Schilderung dieser Aussicht mitzutheilen,
welche wir der Güte des Herrn Pfarrers Völter in Grafenberg verdanken:

  „Wenden wir und nach Norden, so erblicken wir über dem in der Abend-
sonne schimmernden Kirchthurm von Nürtingen das Neckarthal von Unter-
Ensingen an abwärts, in welchem sich neben Wendlingen und Pfauhausen
besonders Köngen mit der steinernen Neckarbrücke, und am Fuße des Schur-
walds Plochingen mit seinen Weinbergen sehr malerisch darstellt. Ueber
dem Neckarthal erhebt sich der Schurwald, auf welchem weiter ostwärts eine
große Anzahl von Dörfern sichtbar ist, und hinter diesen taucht an einigen
Stellen der Welzheimer Wald bläulicht auf, der weiterhin deutlicher sicht-
bar wird und in großer Entfernung einige hochgelegene Dörfer mit Thür-
men oder Schlössern hervortreten läßt. An ihn reihen sich der Hohenstaufen,
Rechberg und Stuifen an, welch letzterer in seiner ganzen Größe sichtbar
ist, und in majestätischer Pracht erscheint, indem seine Seitenwand bei
günstiger Beleuchtung weiß wie ein Alpencoloß schimmert. In mannig-
faltiger Abwechslung, welche durch Einbuchtungen, in denen dunklen Hin-
tergrund man hineinschaut, und durch vorspringende Berge gebildet ist,
erblicken wir gegen Südost und Südwest die Alpkette, zuerst den dicht
bewaldeten breiten Aichelberg mit dem Dorfe Zell, die Teck, den Beurener
Fels, Hohen-Neuffen, das uns gegenüber sein gekröntes Haupt erhebt,
Hohen-Urach, den Mägdeberg, die Achalm, den Roßberg und Farrenberg,
Hohenzollern, auf welchem die einzelnen Gebäude deutlich unterschieden wer-
den können, und hinter dem noch der Heuberg hervorschaut. Im Hinter-
grund erscheint am äußersten Horizont der Schwarzwald als ein langge-
streckter Höhenzug, und vor ihm ausgebreitet die Gegend von Tübingen
und Rottenburg, in dessen Nähe ein isolirter Berg mit einer Burgruine
(die Weilerburg?) sich auszeichnet. Gegen Nordwest begrenzen die bewal-
deten Höhen des Schönbuchs den Horizont, an welchen sich die Filder mit
ihren großen Dörfern anschließen, unter denen das hoch gelegene Degerloch
am äußersten Rande sich besonders deutlich abhebt. Im Norden schaut der
rothe Berg mit seiner Kapelle herauf. Den Schluß dieser Rundsicht, auf
welcher das Auge mit Wonne ruht, bilden die Berge, an welchen die
Eßlinger Weiler mit ihren weißen Häuschen idyllisch zerstreut umherliegen,
einer großen Lämmerheerde ähnlich, die friedlich an einem Bergabhang
weidet. [158]

  Eine wahrscheinliche Römerstraße zieht sich unter dem Namen
Hochstraße südlich vom Ort hin.

  An Württemberg ist Grafenberg mit Neuffen im Jahr 1301
gekommen.*

  * Dem Kellerei-Lagerbuch von 1526 gemäß stand das Patronat der
Herrschaft und aller Zehnte der Pfarrei zu. Caspar von Schlatt verkauft
1431 etliche Gülten dahier an Ulrich Schilling, Bürger zu Nürtingen.
Nach einem Berichte von 1535 war kurz zuvor in dem Burgberg nach Stei-
nen gegraben worden, wobei sich ergeben, daß die Burg verbrannt worden
seyn müsse.